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Der Podcast für Familiengeschichte im Nationalsozialismus

#23 Sinti und Roma

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#23 - Sinti:zze und Rom:nja

Links und Hintergründe

Unsere Gäste heute: Francesco Arman, Sozialdezernent von Gießen, Sinto und Mitbegründer des Studierendenverbandes der Sinti und Roma in Deutschland und die Historikerin Karola Fings.

Überblick

Die Leipziger Autoritarismus-Studie von 2018 kommt zu dem Schluss, dass der massive Antiziganismus oft aus dem Blick gerät: 60 Prozent der Deutschen stimmten der Aussage zu, dass Sinti:zze und Rom:nja zur Kriminalität neigten. Fast sechs von zehn Bürgerinnen und Bürgern hätten ein Problem damit, wenn sie in ihrer Nähe wohnen würden. Und rund die Hälfte fand, sie sollten aus den Innenstädten verbannt werden. Und nach der RomnoKher-Studie 2021 erleben 60 Prozent der Minderheitenangehörigen in der Schule Diskriminierung. 50 Prozent berichten von Gewalt, 25 Prozent geben an, von Lehrkräften und im Klassenzimmer diskriminiert worden zu sein.

Das RomArchive ist ein digitales Online-Archiv, das eine Übersicht über Künste und Kulturen von Sinti:zze und Rom:nja gibt. Der Name ist zusammengesetzt aus „Roma“ und „Archive“ . Die Website wurde 2020 mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet.

Die Unabhängige Kommission Antiziganismus wurde 2019 vom Deutschen Bundestag eingesetzt. Dem Gremium gehörten elf Personen aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft an, die sich mit Antiziganismus beziehungsweise Rassismus gegen Sinti:zze und Rom:nja beschäftigen. Sie soll die Politik dabei unterstützen, Antiziganismus zu erkennen und zu bekämpfen. Der Abschlussbericht samt Handlungsempfehlungen wurde im Juni 2020 vorgelegt.

Stereotype

Stereotype gegen Sinti:zze und Rom:nja sind Jahrhunderte alt. Wird aktuell über sie berichtet, ist meistens die Rede von kriminellen Clans und verarmten Bettelbanden. Medien reproduzieren so Vorurteile, die Hass schüren. Viele Sinti:zze und Rom:nja verleugnen deshalb lieber vor Kolleginnen und Kollegen, dass sie der Minderheit angehören. Wie es sich damit lebt, hat Spiegel online 2018 dokumentiert.

Ein bisschen Geschichte

Einen guten Überblick über die Geschichte findet Ihr im Überblick von Karola Fings: "Sinti und Roma. Geschichte einer Minderheit", C.H. Beck Verlag, 2., aktualisierte Auflage, 2019, 9,95 Euro.

Verfolgung in der NS-Zeit

Mit Beginn der NS-Herrschaft setzte die Verfolgung von Sinti:zze und Rom:nja aus sogenannten "rassischen Gründen" ein.

1933 wurde das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" erlassen, das die Zwangssterilisation von Menschen vorsah. Rasseforscher wie Robert Ritter stützten sich später auf dieses Gesetz als Grundlage für die Zwangssterilisationen.

1935 Der Erlass der Nürnberger Gesetze betraf Sinti:zze und Rom:nja sowie jüdische Menschen gleichermaßen. Durch das "Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre" wurden ihnen beispielsweise Ehen mit "deutschblütigen Personen" verboten. Sinti:zze und Rom:nja sowie jüdische Menschen verloren durch die Gesetzgebung die deutsche Staatsbürgerschaft.

1936 wurde im Reichsgesundheitsamt die "Rassenhygienische und Bevölkerungsbiologische Forschungsstelle" unter Leitung von Robert Ritter eingerichtet. Bis 1944 verfassten Ritter und seine Mitarbeiter rund 24.000 Gutachten über Sinti und Roma. Die Gutachten dienten als Grundlage für Sterilisationen und später die Ermordung in Auschwitz.

1938 wurde die "Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens" eingerichtet, die dem Reichssicherheitshauptamt (RSHA) unterstellt war. Im Dezember folgte Heinrich Himmlers Runderlass zur "Regelung der Zigeunerfrage aus dem Wesen der Rasse" heraus.

Ab Oktober 1939 durften Sinti und Roma ihren Wohnsitz oder momentanen Aufenthaltsort nicht mehr verlassen und mussten sich bei der örtlichen Polizei melden.

Im Mai 1940 begannen die ersten familienweiten Massendeportationen in Ghettos und Konzentrationslager in Polen.

1942 wurde mit dem "Auschwitz-Erlass" Himmlers die Polizei angewiesen, alle Sinti:zze und Rom:nja, auch die so genannten "Zigeunermischlinge" in Konzentrationslager einzuweisen, "ohne Rücksicht auf den Mischlingsgrad".

Ab 1943 wurden Tausende Sinti:zze und Rom:nja nach Auschwitz deportiert, wo sie im so genannten "Zigeunerlager" untergebracht wurden. Von den über 20.000 Menschen, die dort eingesperrt wurden, starben mehr als zwei Drittel an Hunger, Krankheiten und Misshandlungen durch die SS-Wachmannschaften.

Am 3. August 1944 wurden alle 2897 Sinti:zze und Rom:nja, die zu diesem Zeitpunkt noch am Leben waren, vergast.

Francescos Geschichte

Francesco kennt nur Fragmente seiner Familiengeschichte, die im Raum Hannover lebte, doch die Stadt selbst hat die Verfolgungsgeschichte eines Teils seiner Familie aufgearbeitet und dokumentiert.

Verweigerte Entschädigung

BRD

Als Adenauers Kanzleramtschef war Hans Maria Globke 14 Jahre lang einer der mächtigsten Männer der jungen Bundesrepublik - und zugleich einer der umstrittensten: Hans Maria Globke, beteiligt an den Nürnberger Rassegesetzen, wurde zur Symbolfigur für die unaufgearbeitete braune Vergangenheit des Landes.

Ostern 1980 erzwangen Bürgerrechtler um den heutigen Vorsitzenden des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose, in der KZ Gedenkstätte Dachau die offizielle Anerkennung des NS-Völkermords.

Über den Kampf um Anerkennung, hat Romani Rose ein Zeitzeugengespräch im Deutschlandfunk mit Melanie geführt.

DDR

Um 1980 lebten in allen sozialistischen Ländern etwa 2,5 Millionen Sinti und Roma. Auf dem Gebiet der SBZ/DDR hatten 1945 von insgesamt 5.000 Angehörigen der Gruppe etwa 600 überlebt. Auch hier waren Bildungs- und Aufstiegsoptionen stark begrenzt, Entschädigung fand kaum statt.

Neue Bürgerbewegung

Zum Thema Identitätspolitik findet Ihr mehr hier und hier.

Aktivistinnen und Aktivisten, wie die Stuttgarterin Esther Reinhardt-Bendel von "Sinti-Roma-Pride", wehren sich ganz offen gegen Ausgrenzung und auch dagegen, dass der Genozid in Vergessenheit gerät. Ebenso wie Roxanna-Lorraine Witt, Mitbegründerin vom save space e.V. oder der Romblog Acadamy. Auch Gianni Jovanovic setzt sich mit seinem Buch "Ich, ein Kind der kleinen Mehrheit" dafür ein, dass die Mehrheitsgesellschaft Alltagsrassismus und -diskriminierung wahrnimmt und die Stimmen von Sinti:zze und Rom:nja endlich gehört werden müssen. Unbedingt lesen! Oder ihm zuhören, etwa bei Deutschlandfunk Nova. Ihn und viele andere kommen auch zu Wort in der Dokumentation "Geschichte im Ersten: Der lange Weg der Sinti und Roma". Dringend empfohlen: Der Podcast "RymeCast" von und über Sinti:zze und Rom:nja von Sejnur Memisi und Nino Novakovic.

Karola Fings

In der von Karola Fings kuratierten Sektion "Voices of the Victims" im RomArchive könnt Ihr die Stimmen derjenigen hören, die unter dem Nationalsozialismus als Roma, Sinti, Kalderasch, Lalleri, Lowara, Manusch oder als Angehörige einer anderen Romanes sprechenden Gruppe verfolgt wurden.

Fehlendes Unrechtsbewusstsein

Die Doktorarbeit der Historikerin und Kriminalhauptkommissarin Eveline Diener zeigt, wie Sinti:zze und Rom:nja in Bayern auch nach dem Ende des Nationalsozialismus von der Polizei benachteiligt und herabgewürdigt wurden.

Racial Profiling

Vortrag von Lea Beckmann von der Gesellschaft für Freiheitsrechte und Anja Reuss vom Zentralrat Deutscher Sinti und Roma in einem auf dem 36. Chaos Communication Congress 2019.

Die Dokumentationsstelle Antiziganismus (Dosta) des Vereins Amaro Foro hat Beispiele gesammelt, bei denen Sinti:zze und Rom:nja Racial Profiling und anderer Diskriminierung ausgesetzt waren. Auch der Abschlussbericht der Unabhängigen Kommission Antiziganismus kritisiert Racial Profiling.

Nach dem Mord an George Floyd in den USA und die massiven Proteste gegen rassistische Polizeigewalt, begann auch in Deutschland im Frühjahr 2020 die Diskussion und die Bundesregierung stritt über „latenten“ Rassismus in Sicherheitsbehörden. Eine Studie über Racial Profiling wurde angekündigt – und die Ankündigung kurz darauf vom damaligen Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) zurückgenommen. Begründung: Racial Profiling sei ja verboten, darum gebe es das auch nicht.

Ergebnisse des Kommisionsberichts

Den 800 Seiten starken Abschlussbericht samt Handlungsempfehlungen könnt Ihr hier runterladen, die kürzere Fassung hier.

Eine wichtige Forderung der Expertenkommission ist bereits umgesetzt. Die Bundesregierung hat Anfang März 2022 einen Antiziganismus-Beauftragten berufen. Der Rechtsanwalt Mehmet Daimagüler, spezialisiert auf Strafrecht und bekannt geworden vor allem als Vertreter der Nebenklage im Münchner NSU-Prozess, will gegen hartnäckige Vorurteile gegen Sinti:zze und Rom:nja öffentlich vorgehen. Zudem wird er die Maßnahmen der Bundesregierung gegen Antiziganismus koordinieren.

Recherche

Die Arolsen Archives – International Center on Nazi Persecution sind ein Zentrum für Dokumentation, Information und Forschung über die nationalsozialistische Verfolgung, NS-Zwangsarbeit sowie den Holocaust mit Sitz in der nordhessischen Stadt Bad Arolsen. Bis zum 20. Mai 2019 war die Organisation unter dem Namen Internationaler Suchdienst (englisch International Tracing Service; ITS) bekannt.

Im sogenannten „Wiedergutmachungsarchiv“, dass mehr als 1 Mio. Akten umfasst, sind in den dort aufbewahrten Entschädigungsakten die einzelnen Verfolgungsschicksale und der Gang der Entschädigungsverfahren dokumentiert. Grundlage ist das Bundesgesetz zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung, kurz BEG, vom 29. Juni 1956. Alle Entschädigungsverfahren sind in einem zentralen Register, der Bundeszentralkartei (BZK) zu finden. Sie wird vom Land Nordrhein-Westfalen im Auftrag des Bundes und der Länder bei der Bezirksregierung Düsseldorf geführt. Dort lohnt sich eine Anfrage, wenn Du wissen möchtest, ob Deine Großeltern entschädigt wurden.

Mehr über die Initiative des Bundesfinanzministerium und dem Bundesarchiv zu den "Wiedergutmachungs"-Akten gibt's hier.


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Über diesen Podcast

Seit 75 Jahren ist der Nationalsozialismus Geschichte - und doch wirkt er bis heute weiter - im eigenen Leben, in den Familien. Der Podcast "gestern ist jetzt" erzählt von der Suche nach Antworten darauf, wie sich unsere eigenen Großväter im Nationalsozialismus verhalten haben. Und soll auch Dich bei Deiner Suche weiterbringen - dank der Unterstützung vieler Historiker, Sozialwissenschaftlerinnen, Psychologinnen und Archivare - aber und anderer recherchierender Enkel*innen, die schon viel weiter sind als wir. Wir, das sind Melanie Longerich und Brigitte Baetz - zwei Journalistinnen aus Köln.

von und mit Melanie Longerich, Brigitte Baetz

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