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Der Podcast für Familiengeschichte im Nationalsozialismus

#25 - Zwangsarbeit

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Links und Hintergründe*

Unsere Gäste heute: Der Fotograph Stefan Weger, der über die Suche nach seiner Ururgroßmutter erzählt, die er in dem Fotobuch "Luise. Archäologie eines Unrechts" verarbeitet hat, und die Historikerin Christine Glauning, die in Berlin das Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit leitet.

Grundlagen

Wichtige Begriffe zur nationalsozialistischen Zwangsarbeit findet Ihr im Interviewarchiv "Zwangsarbeit 1939-1945" der Freien Universität Berlin.

Einen guten Überblick vom Historiker Cord Pagenstecher bei der BpB gibt es hier und ein Dossier zum Thema auch. Wer einen Überblick will über die vielen verschiedenen Facetten, findet natürlich bei Wikipedia einiges, samt umfassender Literatur, und natürlich bei der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ).

Um Zwangsarbeit in den ersten Konzentrationslagern ging es auch in Folge #21, als wir über die Geschichte des Düsseldorfer Kommunisten Toni Melchers gesprochen haben.

Zu Besuch bei Christine Glauning

Das Berliner Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit in Niederschöneweide ist eine gute Anlaufstelle für recherchierende Enkelinnen und Enkel, denn hier laufen alle Infofäden für die Recherche zusammen und es gibt auch Seminare zum Thema.

Albert Speer, Hitlers Vertrauter, Lieblingsarchitekt und sogenannter "Generalbauinspekteur für die Reichshauptstadt" wird im Februar 1942 auch Rüstungsminister und eine treibende Figur beim Zwangsarbeitereinsatz. Dennoch konnte er beim großen Kriegsverbrecherprozess in Nürnberg den Kopf aus der Schlinge ziehen, gab sich als durchsetzungsstarker Manager, der von den Verbrechen nichts gewusst habe, vielmehr verführt worden sei von der starken Aura Hitlers. Anders als etwa Fritz Sauckel, der "Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz", der in Nürnberg zum Tod verurteilt und hingerichtet wurde, kam Speer mit einer 20-jährigen Haftstrafe davon. Als er im Oktober 1966 aus dem Kriegsverbrechergefängnis in Berlin-Spandau entlassen wurde, begann seine zweite Karriere als gefeierter und scheinbar geläuterter Zeitzeuge, der regelmäßiger Gast im vielen Talkshows war. Seine verfassten Memoiren, die "Erinnerungen" von 1969 und die "Spandauer Tagebücher" von 1975, die in viele Sprachen übersetzt wurde, waren Bestseller. Wer mehr wissen will, gerade über Speers Karriere in der Nachkriegszeit, kann sich den Vortrag des Historikers Magnus Brechtken anhören, der 2021 die Biographie "Albert Speer. Eine deutsche Karriere" geschrieben hat.

Zwangsarbeit sehr vielschichtig

Die Art des Arbeitseinsatzes, die Herkunft der Menschen, die alltäglichen Bedingungen und ihre Behandlung waren sehr unterschiedlich. Interview dazu mit Christine Glauning in der taz.

Wer mehr über das "System Sauckel" und die Zusammenarbeit von Generalbevollmächtigten und Reichsarbeitsministerium wissen möchte: Die Historikerin Swantje Greve hat sich damit in ihrem gleichnamigen Buch beschäftigt.

Mit den Polenerlassen vom 8. März 1940 und den Ostarbeitererlassen vom 20. Februar 1942 unterwarfen die Nazis Millionen verschleppte Arbeitskräfte aus Osteuropa einem diskriminierenden Sonderrecht, das für die Betroffenen Ausbeutung, Ausgrenzung und Demütigung bedeutete. Während für Westeuropäer die Justiz zuständig war, war es für die Osteuropäer die Gestapo.

Walerian Wróbel

Die Geschichte von Walerian Wróbel ist bis heute oft Thema im Geschichtsunterricht vieler Bremer Schulen. Der Rechtshistoriker Christoph Schminck-Gustavus hat seinen Fall recherchiert und darüber ein Buch geschrieben mit dem Titel "Das Heimweh des Walerian Wrobel".

Walerians Geschichte gilt als Präzedenzfall der sogenannten Polenstrafrechtsverordnung, die ab Anfang Dezember 1941 galt und die auch für jüdische Menschen galt. Nach der mussten Staatsanwälte Straftaten, die von Deutschen gegenüber Polen und Juden begangen wurden, nicht von Amtes wegen verfolgen. Vorläufige Festnahmen sowie Inhaftnahme waren schon bei dringendem Tatverdacht und ohne besondere Haftgründe zulässig. Urteile gegen Polen und Juden waren sofort vollstreckbar. Privat- und Nebenklagen blieben Polen und Juden versagt.

Stefan Weger hat seine Recherche zu seiner Urgroßmutter in seiner Abschlussarbeit bei der Ostkeuzschule für Fotografie verarbeitet. Daraus ist ein Bildband entstanden. "Luise. Archäologie eines Unrechts", heißt der und wurde mit dem Deutschen Fotobuchpreis 2021/22 in der Kategorie "Self Publishing ausgezeichnet. Demnächst soll er im Berliner Shift Books Verlag in größerer Stückzahl verlegt werden. Außerdem sind die Bilder im Rahmen einer Ausstellung in verschiedenen KZ-Gedenkstätten zu sehen.

Unterschiedliche Diskurse

Bei Christine Glauning kommen seit einiger Zeit besonders viele Anfragen von Enkelinnen und Enkeln aus den Niederlanden an. Wer sich für die Thematik interessiert, und dazu noch gerne Graphic Novels liest, dem sei das Tagebuch von Jan Bazuin empfohlen, ein 19-jähriger Rotterdamer, der gegen Ende des Krieges noch zu Zwangsarbeit nach München verschleppt wurde und darüber in seinem Tagebuch berichtete - eines der wenigen erhaltenen Dokumente von Zwangsarbeitern überhaupt. Melanie hat es schon für den Deutschlandfunk gelesen und mit dem Herausgeber Paul-Moritz Rabe vom NS-Dokumentationszentrum in München gesprochen. Er ist u.a. im Münchner Westen für den derzeit entstehenden Erinnerungsort in Neuaubing zuständig, der sich auf dem Gelände eines ehemaligen NS-Zwangsarbeiter*innenlagers befindet. Bis zur geplanten Eröffnung 2025 wird der Ort von vielen interessanten digitalen Projekten unter dem Begriff "Departure Neuaubing" begleitet, bei denen man mitmachen kann.

Wer sich für den Diskurs in der Sowjetunion und die späte Aufarbeitung und Entschädigung von deutscher Seite interessiert, der sollte sich eine Podiumsdiskussion der Heinrich-Böll-Stiftung anschauen, die 2019 im Rahmen der Buchvorstellung "'Für immer gezeichnet' - Die Geschichte der 'Ostarbeiter'" stattfand. Mit dabei: Christine Glauning, Irina Scherbakowa von der internationalen Menschenrechtsorganisation Memorial, die im Dezember 2021 von Russlands Oberstem Gericht zwangsaufgelöst wurde und Jens-Christian Wagner, Stiftungsdirektor der Gedenkstätte Buchenwald.

Auch der dreiteilige Podcast vom RBB, anlässlich des 80. Jahrestags der Wannsee-Konferenz im Januar 2022 beschäftigt sich mit der Frage der Erinnerungskultur in Deutschland und Russland heute. U.a. mit Irina Scherbakowa und dem Historiker Michael Wildt.

Dem lange Weg der "Entschädigung" widmet sich ein Dossier der BpB mit vielen Interviews von Beteiligten. Und auch bei der Stiftung EVZ gibt es einen guten Überblick - ebenso wie eine Liste der Unternehmen, die in die Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft eingezahlt haben.

Des Kunstsammlers Friedrich Christian Flicks späte Zahlung in den sogenannten "Zwangsarbeiterfonds" der EVZ wurde auch medial stark begleitet.

Recherche

Das Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit in Berlin ist eine gute Anlaufstelle für recherchierende Enkel, auch aus dem europäischen Ausland. Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner und Lagerdatenbanken findet Ihr hier. Einen guten Überblick zur Suche gibt Christine Glauning auch im Erklärvideo auf unserer Webseite.

Auch der internationale Suchdienst des Roten Kreuze, heute Arolsen Archives gibt viele Suchinfos für Angehörige.

Sklaverei heute

Viele Millionen Menschen leben auch unter sklavereiähnlichen Bedingungen. 40,3 Millionen Menschen waren laut dem Global Slavery Index 2018 der Walk Free Foundation im Jahr 2016 Opfer moderner Sklaverei. Das heißt, sie wurden etwa zum Arbeiten gezwungen oder mussten gegen ihren Willen heiraten. Unter dem Begriff "Moderne Sklaverei" wird nämlich nicht nur die klassische Form von Sklaverei oder Leibeigenschaft verstanden, sondern auch sklavereiähnliche Praktiken wie zum Beispiel Schuldknechtschaft, Kinderarbeit oder Zwangsprostitution.


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Über diesen Podcast

Seit 75 Jahren ist der Nationalsozialismus Geschichte - und doch wirkt er bis heute weiter - im eigenen Leben, in den Familien. Der Podcast "gestern ist jetzt" erzählt von der Suche nach Antworten darauf, wie sich unsere eigenen Großväter im Nationalsozialismus verhalten haben. Und soll auch Dich bei Deiner Suche weiterbringen - dank der Unterstützung vieler Historiker, Sozialwissenschaftlerinnen, Psychologinnen und Archivare - aber und anderer recherchierender Enkel*innen, die schon viel weiter sind als wir. Wir, das sind Melanie Longerich und Brigitte Baetz - zwei Journalistinnen aus Köln.

von und mit Melanie Longerich, Brigitte Baetz

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